Die Augsburger Maßnahme

 

 

Die Inszenierung der „Maßnahme“ auf dem diesjährigen Brecht-Festival hat das Stück von seinen wackligen Beinen auf den Kopf gestellt, derart drastisch, dass mir leider nichts anderes übrig bleibt, als Brecht gegen seine Interpreten zu verteidigen. Die folgenden Gedanken zur Augsburg Maßnahme entspringen einer Diskussion die ich über mehrere Tage mit zwei weiteren Genossen (Ja, uns gibt es noch immer! Wir wandeln unter euch!) über die Inszenierung führen durfte. Der Text hat den Charakter eines Thesenpapiers.

Wer sich ein wenig mit der „Maßnahme“ auseinandersetzt, merkt schnell, dass es sich dabei in mehrerlei Hinsicht um ein problematisches Stück handelt. Angesichts der stalinistischen Schauprozesse von Brecht selbst verboten, von Heiner Müller, der sich zunächst an den Lehrstücken abarbeitete, als nicht mehr aufführbar bezeichnet, liegen sie als Schlachtschiffe einer vergangenen Zeit auf dem Grund eines Meeres aus Tod und Leid – Verschüttet also unter der Wucht der jüngsten Geschichte und darunter nur mehr Trümmer. „Zur Maßnahme fällt mir nichts mehr ein“, urteilte Heiner Müller in einem kurzen Brief aus dem Jahr 1977 [1]. Man könne sie nicht mehr inszenieren, weil die Adressaten des Stücks verloren gegangen sein und man daher nur noch Archäologie betreiben könne. Dass sein Urteil von damals richtig war, mehr noch, dass Brecht gut daran tat, die Aufführung zu untersagen, zeigt sich an der diesjährigen Inszenierung nur zu deutlich.

Es soll daher zunächst versucht werden, ein wenig Archäologie zu betreiben, um im Anschluss zu fragen, wie es dazu kommen konnte, dass in der Augsburger Inszenierung von Selcuk Cara die EU und Bundesinnenminister Thomas de Maiziére mit dem Parteiapparat der Kommunistischen Partei in eins fallen. Diese derart schiefe Setzung ermöglichte es im Anschluss, den Konflikt zwischen Individuum und kollektivem Bemühen um eine wirkliche Alternative zur kapitalistischen Warengesellschaft unter purem Moralismus zu vergraben. Die brechtsche Intention des Lehrstücks wird schlicht verfehlt.  Die Eindeutigkeit, mit der die Inszenierung durch ihr Vorspiel und ihre ästhetische Form zu einer Parteinahme für die Position des jungen Genossen drängt, soll dabei als problematische herausgearbeitet werden.

 

Was war geschehen?

Das Augsburger Brecht-Festival 2017 startete in diesem Jahr erstmalig mit einer Eigenproduktion. In der improvisierten Spielstätte des Augsburger Gaswerks wurde Brechts Skandalstück „Die Maßnahme“ von Selcuk Cara in Szene gesetzt. Bereits dem Programmheft des Festivals war zu entnehmen, dass der Regisseur die „Maßnahme“ mit den aktuellen Diskussionen um die mörderische europäische Flüchtlingspolitik in Verbindung bringen wolle. Ein schon im Ansatz problematisches Unternehmen, stammt die „Maßnahme“ doch aus einer Zeit, die nicht ohne Weiteres auf unsere Gegenwart übertragbar ist [2]. Gelöst wurde jene Übertragung von Selcuk Cara zunächst dadurch, dass eine Inszenierung vor dem eigentlichen Stück die europäische Flüchtlingspolitik thematisiert. So wurden die BesucherInnen zunächst in das große Kühlergebäude des Gaswerks geführt, um in einer düsteren, muffigen und gedrängten Atmosphäre mit Szenen konfrontiert zu werden, wie sie sich momentan an den Stränden und Außengrenzen der EU abspielen. „Was ist ein Mensch?“ wurde da gemurmelt, ein Zitat aus dem “Song der Ware“ der im Zentrum der „Maßnahme“ steht. Ein Tumult am anderen Ende des Raumes bricht aus, welcher den Konflikt um die Medienbilder der gestrandeten Flüchtlinge thematisieren soll. Letztlich löst sich das Geschrei auf und die Jungschauspieler zitieren im Chor Innenminister Thomas de Maizière: „Auch wenn wir jetzt einige Wochen ein paar harte Bilder aushalten müssen, unser Ansatz ist richtig.“  Spätestens jetzt läuft einem ein kalter Schauer über den Rücken hinunter und die Stoßrichtung ist vorgegeben, unter der die darauf folgende Inszenierung der „Maßnahme“ in Gerätehaus des Gaswerks stattfinden wird. Selcuk Cara formuliert sie unmissverständlich im vor Ort ausgeteilten Programmheft:

„Was wollen mein Innenminister und meine EU von mir (von uns?) Sie wollen das, was die Agitatoren und der Kontrollchor auch vom jungen Genossen verlangen: Die Auslöschung meines Gesichtes, meiner Individualität, meines Wesens – im Grunde die Auslöschung meiner persönlichen Verantwortung. Sie wollen, dass ich für das große Ganze für das System für die EU meinen Begriff der Mitmenschlichkeit und des Mitleids auf bürokratische Art neu definiere. Es liegt an uns, Gesicht zu zeigen, oder stumm und ohnmächtig der Auslöschung unseres Gesichtes zuzustimmen“. 

Archäologie und die „Lehre der Klassiker“

Das eigentliche Stück wird im Anschluss selbstredend nach dem Brechtschen Inhalt inszeniert, selbst wenn die moralische Überformung durch den Hammerschlag der Schreienden nicht mehr aus dem Kopf geht, doch nicht als Splitter im Augen, der den Blick schärft, denn als Scheuklappen. Der Inhalt ist schnell erzählt: Um 1930, als das Ziel einer kommunistischen Weltrevolution angesichts der Situation in Russland schon zum Scheitern verurteilt war, inszeniert Brecht den Konflikt zwischen Individuum und Partei im Kontext der Revolution, indem er drei Agitatoren aus Moskau auftreten lässt, die sich vor einem Kontroll-Chor der Partei zu ihrem Auftrag in der feindlichen, chinesischen Stadt Mukden rechtfertigen sollen. Dort trafen die Agitatoren, die ausgesandt wurden, um die Parteilehren zu verbreiten und damit die sozialistische Weltrevolution voranzutreiben, auf einen jungen Genossen, der sich ihnen als Führer anschloss. Während des Auftrags ergibt sich das Problem, dass der junge Genosse durch das gesehene und erlebte Leiden der Bevölkerung Mitleid empfindet und letztlich individuell in Widerspruch mit den notwendigen Schritten zur Erreichung eines revolutionären Zustands handelt. Die Situation spitzt sich soweit zu, dass der revolutionäre Umschlag verpasst wird und die Agitatoren samt Genossen fliehen müssen, um nicht entdeckt zu werden. Auf der Flucht fordern die Agitatoren schließlich das Einverständnis des jungen Genossen, ihn eliminieren zu dürfen um eine weitere verdeckte Agitation unter den Massen zu ermöglichen. Er stimmt zu, und die Agitatoren töten den jungen Genossen und werfen ihn in eine Kalkgrube. Die Geschichte des Auftrags wird das Ganze Stück über nacherzählt und die drei Agitatoren müssen ihre Maßnahme (die Tötung des jungen Genossen) vor dem Kontroll-Chor rechtfertigen, der ihnen nach und nach in ihren Handlungen zustimmt.

Soweit der Inhalt des Stücks, der aus heutiger Sicht mehr als seltsam erscheinen mag, um 1930 jedoch einige zentrale Fragestellungen behandelte. Um die dargestellte Situation jedoch verstehen zu können und das merkte ja Brecht selbst an als er darauf hinwies, dass die Lehrstücke zur Schulung (im dialektischen Denken) von, in den sozialistischen Klassikern belesenen Jungschauspielern dienen soll, muss man aber schon ein bisschen Marx und Co. gelesen haben. Brecht hatte das jedenfalls in den Jahren um 1930 [3] und so einige Versatzstücke materialistischer Theorie in der „Maßnahme“ wohl stärker als in anderen seiner Stücke zu finden. Was anderseits noch nicht heißen soll, dass der Brechtsche Materialismus der „Maßnahme“ auf wirklich starken Beinen ruht. Ganz im Gegenteil. An einigen Stellen kippt dieser in pure vorkapitalistische Ausbeutungstheorie, wie etwa im Song der Ware [4].

Die Frage, die das Stück letztlich verhandelt, ist: darf es sein, dass das Individuum zurücktritt für das Ziel seiner Befreiung, welche nach der Marxschen Theorie erst im Kommunismus möglich ist? Darf es, dramatisch zugespitzt, geopfert werden?  Die Antwort kann natürlich nur lauten: Natürlich nicht! Aber das Individuum kann auf dem Weg seiner eigenen Befreiung, wenn es noch keine Einsicht in die Funktionsweise der Gesellschaft hat, die es zu überwinden gilt, zum Problem werden. Und  was dann? Soweit zur historischen Situation um 1930, als der Gedanke eines geradlinigen Fortschritts der Marxschen Revolutionslokomotive zum Kommunismus zumindest noch denkbar war. Und nur in Bezug auf das Telos des Kommunismus, den „Verein freier Menschen“ (Marx), in dem das Individuum erstmals in der Geschichte die Möglichkeit hätte sich zu erkennen und die Frage: „Was ist ein Mensch?“ außerhalb der Begrenztheit seiner Warenförmigkeit beantwortetn könnte, macht das Stück irgendeinen Sinn.

Die Marxsche Revolutionslokomotive ist nach einer Interpretation von Walter Benajmin zu einem Zug geworden der unaufhaltbar Richtung Katastrophe rollt und der Griff nach der Notbremse erscheint als einziger Ausweg. Oder anders: Es liegt das gesamte Trümmerfeld der Geschichte, wie es dem Engel der Geschichte (Angelus Novus/Benjamin)) vor die Augen kommt über dem Konflikt, den die „Maßnahme“ noch darzustellen versuchte. Heiner Müller in seiner Auseinandersetzung mit den Brechtschen Lehrstücken, etwa im „Mauser“ wusste das, setzte sich zunächst mit diesem Problem auseinander, und legte es dann frustriert zu den Akten.

Und nun Alles Zusammen !?

Und so sitze ich also nach der Inszenierung der „Maßname“ mit den beiden anderen jungen Genossen beinahe zwei Tage zusammen und versuche den Knoten zu entwirren, den man im Hirn vorfindet, wenn man den historischen Text der „Maßnahme“, das Wissen um  die Klassiker und die richtigen Einwände ihrer Nachfolger (Benjamin, Müller, Adorno) auf die momentane Krise der EU und das Morden an den EU-Außengrenzen beziehen soll. Es funktioniert einfach nicht!

Die ganze Inszenierung und der einst kritische Gehalt des Lehrstücks gerät durch die Parallelisierung des Regisseurs: „Was wollen mein Innenminister und meine EU von mir (von uns?) Sie wollen das, was die Agitatoren und der Kontrollchor auch vom jungen Genossen verlangen: Die Auslöschung meines Gesichtes, meiner Individualität, meines Wesens…“ in eine derartige Schieflage, dass sie in die eine Richtung umkippt. Diese Setzungen aus dem Vorspann ziehen sich auf formaler Ebene auch durch die Inszenierung des Stücks, etwa wenn der Aspekt der „roten Messe“ (der sicher auch Brechts/Eislers Intention entsprach), durch Weihrauch und andere religiöse Motive übermäßig betont wird. Der Kahn wird zum Schlauchbot und der Kontrollchor muss hinter einen Vorhang zurücktreten. „[…] Es liegt an uns Gesicht zu zeigen, oder stumm und ohnmächtig der Auslöschung unseres Gesichtes zuzustimmen“ , lautet die Lösung, die Selcuk Cara vorgibt. Die einseitige Parteinahme für die Position des jungen Genossen. Diese Auflösung des Konfliktes zwischen Individuum und der Idee einer befreiten Gesellschaft funktioniert nicht und fällt hinter den kritischen Gehalt von Brecht und noch viel weiter hinter den seiner linken Kritiker (Müller, Adorno) zurück. Vermutlich ist sich der Regisseur dieser Tatsache sogar bewusst, wenn er den Kontroll-Chor hinter einen schwarzen Vorhang platziert, wie es bei der Inszenierung geschah. Der Kontroll-Chor, der eigentlich ein aktiver Bestandteil des Stückes ist, den Brecht einst mit einem Arbeiter-Chor besetzte und der letztlich die Idee des Kommunismus darstellt, verschwindet ganz so wie die Idee des Kommunismus in unserer Zeit verschwunden ist.

In der Parallelisierung zur heutigen Situation wüsste ich jedenfalls nicht, was oder wer für diese Idee stehen könnte. Die EU vertritt in keinster Weise den Universalismus, den das Kommunistische Projekt einst auszeichnete, sie ist schlicht eine Vergrößerung des kapitalistischen Staates auf mehrere Staaten. Es gibt keine gute EU, die gegen eine schlechte zu verteidigen wäre und weltweit ist kein kapitalistischer Staat in der Lage, sich auf „human“ Weise gegen die materiell Abgehängten zu wehren. Die EU bringt uns anderseits sicher nicht auf autoritäre Weise auf Parteilinie, das schafft das postmoderne Individuum schon von ganz alleine. Und letztlich wird unser aller Mitgefühl den Opfern der europäischen Flüchtlingspolitik gegenüber niemandem das leben Retten. Mit der Maßnahme ist daher schlicht und einfach nichts mehr zu machen, nachdem das Proletariat und die Idee des Kommunismus praktisch verschwunden sind.

Wenn eine Inszenierung derartig verrutscht, heißt das nur, dass eine Menge Arbeit vor uns liegt, um zunächst einmal das Problem freizulegen, um dessen aktualisierte Darstellung es gehen müsste: Keine befreite Gesellschaft ohne Individuum UND kein Individuum ohne befreite Gesellschaft!

 

 


[1] Verabschiedung des Lehrstücks in Heiner Müller Material, Reclam Leipzig

[2] Entgegen eines oft gehörten Allgemeinplatzes, die brechtschen Werke wären ja so unglaublich aktuell, muss man wohl akzeptieren, dass manche Kunstwerke einer ganz bestimmten historischen Situation entspringen. Gerade für Form und Inhalt der Maßnahme gilt dies ganz besonders. Mit dem Verschwinden der Adressaten meint Müller das Proletariat, welches es in der Form von 1930 heute nicht mehr gibt und das bekanntlich in Deutschland keine Revolution gemacht hat, sondern wenige Jahre Später zum Nationalsozialismus übergelaufen ist. Diese Auflösung des Individuums in der Volksgemeinschaft in den folgenden Jahren, hat die von Brecht dargestellte Situation aus den 30er Jahren für immer beschädigt.

[3] Benjamin und Brecht, Die Geschichte einer Freundschaft, Erdmut Wizisla, Die Geschichte der Beziehung

[4] Der Song von der Ware aus der Maßnahme, der hier erscheinende Vulgärmaterialismus von Brecht und dessen Interpretation in der Augsburger Inszenierung stehen exemplarisch für ein Problem, das an dieser Stelle in aller Ausführlichkeit analysiert werden soll. Die Zeilen um die es hier geht werde von einem Händler vorgetragen, mit dem sich der Junge Genosse trifft um herauszufinden, wann die Kulis bewaffnet werden und wo diese Waffen gelagert werden. Der Song handelt von den ökonomischen Kategorien mit denen sich der Händler herumschlägt, mit seinem alltäglichen Leben als Kapitalist (Der Händler ist ja in seinem beschriebenen Aufgabenfeld eigentlich gar kein Händler, sondern Transportunternehmer für Reis). Nach dem der Händler seine ökonomische Situation vorgestellt hat, ist der junge Genosse derart angewidert, dass er den Reis, dessen Produktion auf der Ausbeutung der ArbeiterInnen beruht, nicht zu essen vermag und seinen Auftrag wieder einmal, nicht durchführen kann. Die Ausbeutung, die Brecht in diesen Zeilen zu beschreiben versucht, fällt aber weit hinter das zurück, was der historische Materialismus (namentlich Marx) unter Ausbeutung versteht. Da heißt es zum Abschluss: „Ich weiß nicht, was ein Mensch ist. Ich kenne nur seinen Preis.“ Was an diesem Satz richtig ist, ist die Tatsache, dass wir nicht wissen können, was der Mensch eigentlich ist, da er in unserer Gesellschaft nur als okonomische Kategorie erscheint. Falsch ist allerdings, dass der Mensch im Kapitalismus einen Preis hätte. Man muss eben korrekt sein, da man sonst in die mitleidige Position des jungen Genossen verfällt. Es ist nicht der Mensch, sondern die Ware Arbeitskraft, die im Kapitalismus einen Preis hat. Um es nicht unnötig kompliziert zu machen soll hier nicht von der Preisform, sondern von der Wertform gesprochen werden. Der Wert der Ware Arbeitskraft hat in der marxschen Analyse einen Doppelcharakter, einen Gebrauchswert und einen Tauschwert. Nur aufgrund dieses Doppelcharakters, welcher der springende Punkt der marxschen Warenformanalyse (1. Kapitel des Kapitals) ist, ist kapitalistische Ausbeutung im gerechten! Tausch möglich. Im Kapitalismus ist es nämlich keinesfalls so, dass Ausbeutung dadurch entsteht, dass den ArbeiterInnen etwas weggenommen wird, wie es der Junge Genosse annimmt. Dies währe die Situation in vorkapitalistischen Gesellschaften und schlicht diese beschreibt Brecht in diesen Zeilen. Ausbeutung entsteht, da die Ware Arbeitskraft einen einzigartigen Gebrauchswert besitzt, nämlich die Fähigkeiten selbst Wert zu schaffen. Der Tauschwert der Ware Arbeitskraft hängt damit aber gar nicht zusammen sondern bemisst sich wie bei jeder anderen Ware an deren Produktionskosten, respektive Reproduktionskosten. Genau dadurch, dass der Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft neuen Wert schafft, dessen Tauschwert sich aber nicht an dem geschaffenen Wert, sondern an den Reproduktionskosten bemisst entsteht der sogenannte Mehrwert, den sich der Kapitalist aneignet. An dieser Stelle entsteht im Kapitalismus Ausbeutung, die innerhalb dieses Systems nichts moralisch verwerfliches darstellt. So lautet, einmal ganz im Detail analysiert, die Lehre der Klassiker welche die Agitatoren zu verbreiten versuchen, und die der Junge Genosse nicht verstanden hat, und daher in Mitleid über eine Ungerechtigkeit, die gar nicht existiert, verfällt. Der Junge Genosse handelt an dieser Stell also objektiv Falsch. Sein Mitleid entsteht durch eine falsche Analyse der gesellschaftlichen Situation. Ob Brecht gerade an dieser Stelle eine sehr lehrreiche Falle konstruiert, oder Marx nicht ganz verstanden hat, soll der Brechtforschung überlassen werden. Erstaunlich ist, dass genau diese Stelle, nämlich, die Frage: „Was ist ein Mensch?“, den Startpunkt der Augsburger Inszenierung bildet, indem genau dieser Satz von den jungen Schauspielern gemurmelt wird um nicht ökonomisch sondern rein moralisch auf das Leiden der an den Europäischen Außengrenzen gestrandeten hinzuweisen. Weil die Beantwortung dieser Frage, innerhalb einer materialistischen Philosophie aber nur in Bezug auf seine ökonomische Position zu beantworten ist und das an dieser Stelle außen vor bleibt (Warum fliehen Menschen heute? Vielleicht auch und zurecht aus ökonomischen Gründen?), wird der Kritische Kern des Stücks verfehlt. Oder anders: Brecht stellte wenigstens noch fest: „Ich weiß nicht was ein Mensch ist. Ich kenne nur seinen Preis.“ Heute fragt man nur noch verdutzt: Was ist ein Mensch? und positioniert sich im Anschluss moralisch zu dieser Frage.