Die Nachtschwärmer

 

Gefangen im Netz der Nacht

Manchmal fallen Begriffe auf, weil sie sperrig klingen. Besonders im Deutschen. Und wenn man über sie stolpert und einen Moment innehält, dann kann man bemerken, dass Begriffe selten harmlos sind. „Nachtschwärmer“ ist einer dieser Begriffe. Er dient der Augsburger Allgemeine häufig zur Beschreibung jener (junger) Menschen, die sich die Nächte um die Ohren schlagen. Stolze 770 „Artikel“ unter diesem Schlagwort verzeichnet das Onlineangebot der AZ.

Unter der Rubrik „Die Nachtschwärmer in unserer Region“ finden sich zumeist bunte Exemplare des nächtlichen Treibens; und beim Durchklicken dieser nichtssagenden Partybilder muss ich unausweichlich an die in Schaukästen aufgespießten und schlecht präparierten Insekten im Naturkundemuseum denken. Wobei für das Aufspießen ja immer der Präparator verantwortlich ist. In den restlichen Artikel, die diesen Begriff beinhalten, tauchen zusätzlich die Wörter „Maxstraße“ und „Verbot“ (wahlweise „Maxstraße“ und „Schlägerei“) auf. Selten findet sich ein Artikel, der sich ernsthaft mit den Aktivitäten in den späten Nachtstunden auseinanderzusetzen vermag oder etwas Spannendes zu berichten hat. Alles, was bleibt, ist dieser sperrige Begriff, der „Nachtschwärmer“, wie er immer wieder, ohne aufzugeben, um die letzten Lichtquellen der Nacht kreist. Torkelnd sich die Flügel wundschlägt und dabei einen unfassbaren Lärm verursacht. Ein Schwärmer im Zimmer, kurz vor dem Einschlafen? Das nervt!

Der Begriff, besser seine Assoziationen und der Inhalt der Artikel in der AZ fallen zumeist in eins. Das nächtliche Treiben wird in Augsburg ausschließlich als Problem wahrgenommen. Gerade die Auswahl der Texte, die im Onlineangebot der Zeitung ihren Platz finden, verleitet zur Annahme, dass damit der Diskussion um eine Verschärfung der Sperrstunde in Augsburg Vorschub geleistet werden soll. Die inflationäre Verwendung des Begriffes verweist jedoch auf ein weiteres und vermutlich wichtigeres Problem: Den meisten AutorInnen der AZ scheinen schlicht die notwendigen Begriffe zu fehlen, um die Vielschichtigkeit der nächtlichen Freizeitaktivitäten zu beschreiben. Von den Orten, an denen das nächtliche Treiben seine Impulse erlangt, ist kaum etwas zu lesen. Sicher, sobald auf eine dieser Aktivitäten der Stempel der Kultur/Kunst zutrifft, wird ausgiebig darüber berichtet. Abgesehen von plumper Werbung schaffen es allerdings auch diese Berichte nicht, die Essenz der Ausgehabende näher zu fassen.

Vielleicht gibt es im Deutschen keinen schönen Begriff für die nächtlichen Aktivitäten in Klubs und Bars, WG-Zimmern, auf Afterhours, Ausstellungen und in den Vergnügungsmeilen. Die Verwendung des Begriffes kann letztlich auch nicht das Problem sein. Das Problem besteht wesentlich in der Tatsache, dass nicht im Entferntesten verstanden wird, was dort vor sich geht.

Daher sei an dieser Stelle ein vorläufiger Versuch gewagt, die Intention des nächtlichen “Schwärmens” genauer zu erfassen. Diedrich Diederichsen beschreibt in einem seiner Aufsätze [1] zwei grundverschiedene Motive, einen Donnerstagabend zu gestalten. Die eine Möglichkeit besteht darin, den Abend im Kreise einiger guter Freunde zu verbringen. Ein angemessener Beginn eines solchen Abends könnte etwa in einem guten Essen bestehen, gefolgt von einer Flasche Rotwein am Küchentisch oder dem Besuch der Stammkneipe. Dabei weiß jeder, dass ein derartiger Abend unter Freunden nicht zwingend kurz und nüchtern verlaufen muss. Abgesehen vom konkreten Inhalt des Abends besteht dessen Intention darin, sich auf diese guten Freunde einzulassen. Es geht weniger um die Erfahrung etwas Neuem und Aufregendem sondern darum, sich konzentriert auf die Feinheiten eines Charakters einzulassen, der einem seit vielen Jahren bekannt ist. Solche Abende sind von einer gewissen Neugier geprägt, die darauf abziehlt, innerhalb der wohl eingespielten Konstellation neue Mikroprozesse zu entdecken. Dies ist eine durchaus lohnende, oft auch liebevolle, zugleich aber anstrengende, Konzentrationsarbeit. Anders bei der Ausgehnacht. Eine ungenaue Empfindung ist in diesen Nächten der Konzentration vorzuziehen. Es geht um die permanente Ablenkung, um das Umherschweifen und das Einatmen einer gewissen Potenzialität. In diesen Nächten kann alles passieren, so scheint es. In welchem Bett werde ich morgen wohl aufwachen? Kenn ich den da drüben irgendwoher oder würde ich ihn vielleicht gerne kennenlernen? Dass in Wahrheit natürlich selten irgend etwas wirklich spannendes passiert ist dabei zweitrangig. Das gespürte Versprechen, das gefühlte Risko ist wichtiger als dass es wirklich etwas zu erhoffen gäbe. Es gilt die Kontakte hoch zu halten um mit möglichst vielen, möglichst unterschiedlichen Menschen in eine kurz Verbindung zu treten.

Den beiden Formen der nächtlichen Abendgestaltung sind die Begriffe „Konzentration“ vs. „Intensivität“ zuzuordnen und diese entsprechen genau den unterschiedlichen Motiven, die einen zum Besuch eines klassischen Konzerts (konzentrierte Rezeption) oder einer Techno-Fete (intensive Rezeption) animieren. Beide Formen, eine Abend zu erleben, haben dabei ihre Berechtigungen und in den besten Nächten ereignet sich eine seltsame Verbindung dieser beiden Momente. Diese zugegeben abstrakte Beschreibung dessen, um was es bei einem Ausgehabend geht, könnte dazu dienen zu entscheiden welche Partys, Lokale oder Orte den Intentionen des „Nachtschwärmens“ zuträglich sind. Vielleicht wäre der ganzen Diskussion um Schlägerein im Augsburger Nachtleben schon dadurch geholfen, wenn man feststellen würde, dass an einigen Orten keinenfalls die Steigerung eines Intensiven Lebensgefühls im Vordergrund steht, sondern ein schnelles Geldmachen mit Eimern voller Schnaps.

Wichtig bei dieser Überlegung um die Begriffe „Konzentration“ und „Intensität“ in Bezug auf eine Abendgestaltung, scheint mir ihre Verbindung zu unserer, sich wandelden Gesellschaft. Die intensive Variante der Freizeitgestaltung kann als ein Moment der sich seit den 50er Jahren entwickelnden Sub- und Popkultur verstanden werden. Den Endpunkt dieser Entwicklung bildet der vielschichtige Großstadt-Hedonismus heutiger Prägung, der ebenfalls von den Momenten der Intensität und Verschwendung lebt. Auch für diesen gilt was Jean Francois Lyotard in seinem 1978 erschienenen Aufsatz „Intensitäten“ für die 60er Jahre feststellte: „Das sind die Menschen der Steigerung, die Herren von heute: Außenseiter, experimentierende Maler, Popkünstler, Hippies und Yippies, Parasiten, Verrückte, Eingesperrte. Eine Stunde ihres Lebens enthält mehr an Intensität als tausend Worte eines Berufsphilosophen“. Standen am Anfang dieser Entwicklung die Subkulturen der 50er und 60er Jahre als randständige Phänomene, Popkünstler und Hippies einer traditionellen Arbeitswelt, die von Konzentration und Disziplin geprägt waren gegenüber, hat sich das Verhältnis mittlerweile ins Gegenteil verkehrt. In den heutigen Arbeitsverhältnissen der gehoberen Schichten, die sich durch „Networking“ und eine Verschmelzung von Arbeit und Freizeit auszeichnen, werden die einst widerständigen Motive der Popkultur zum guten Ton. Nicht selten trifft man daher die „Kreativen“ der Stadt in den späten Nachtstunden ihre Kontakte knüpfen. Die Freizeitgestaltung hat sich mit der gewandelten Arbeitswelt verschoben, vom konzentrierten Gespräch mit einer bekannten Person oder einem Theaterbesuch zum nächtlichen Schwärmen in einem Netz von Kontakten und Möglichkeiten. Ob letztere Variante gleichzeitig einem ausgefüllteren Leben entspricht, sei dahingestellt. Sicher ist nur, dass sie aus unserer heutigen Gesellschaft nicht mehr wegzudenken ist.

In dem oben beschriebenen Sinn hat der Begriff des „Nachtschwärmers“ tatsächlich eine gewisse Berechtigung und erfüllt eine Funktion in unserer Gesellschaft. Es ginge allerdings darum, den Sphingidae (Schwärmer), diese robuste und nachtaktive Schmetterlingsart, die weltweit in 1200 Arten vorkommt, in all ihren Ambivalenzen besser zu verstehen, statt einzig und allein auf den Lärm ihrer Flügelschläge zu verweisen.


[1] Diedrich Diederichsen, Mensch der Steigerung, Mensch der Macht: Die Nitzsche Ökonomie, Kapitalistischer Realismus, Campus Verlag