Kreativräume auf Zeit

 

Über die Unmöglichkeit von Freiräumen in der posturbanen Gesellschaft

Unser Betätigungsfeld ist also das Stadtnetz als natürliche Ausdrucksform einer kollektiven Kreativität, die imstande ist, die schöpferischen Kräfte zu umfassen, die sich gleichzeitig mit dem Verfall einer auf dem Individualismus beruhenden Kultur befreien.

KONSTANT, EINE ANDERE STADT FÜR EIN ANDERES LEBEN, 1959

 

Mit der Dokumentation „L.O.F.T.s. – Kreativräume auf Zeit“ auf dem Modular-Festival wird für Augsburg erstmals der Versuch unternommen, urbane Kulturprojekte der letzten 25 Jahre zusammenzutragen, die abseits der städtischen Großprojekte, Kulturevents und Festivals eine Bereicherung für das Leben in der Stadt darstellten und deren Geschichte heute beinahe vergessen ist. Von 1986 bis in die heutigen Tage verweist eine Kette von Projekten und Initiativen darauf, dass hinter der bekannten Fassade Augsburgs mit seinen Postkartenmotiven (Maximilianstraße, Rathaus oder auch Perlachturm) einiges in der Stadt geboten war und wird, das sich kaum hinter den Vorstellungen verstecken muss, wegen derer jedes Jahr zahlreiche junge Menschen Augsburg in Richtung Berlin verlassen.

Die dokumentierten Projekte vereint, dass sie sich allesamt dem Themenfeld der temporären, kreativen Räume zuweisen lassen. Das politische Konzept, welches diese Art urbaner Projekte beschreibt, wird seit den 90er Jahren mit dem Begriff „Zwischennutzung“ betitelt und umfasst inhaltlich die befristete Nutzung von Leerstand für kulturelle, soziale oder informative Projekte. Für die jüngeren Menschen in Augsburg dürfte vor allem das „JeanStein“ im Gedächtnis geblieben sein, war es doch eines der größeren Projekte dieser Art. Drei Monate lang wurde im Jahr 2010 ein leer stehendes Gebäude in der Nähe des – mittlerweile abgerissenen  –  Hasenbräugeländes zu einem kulturellen Treffpunkt [1] für die ganze Stadt, und spätestens ab diesem Zeitpunkt war man sich auch in Augsburg darüber bewusst, dass in der oftmals als eher verschlafen empfundenen Fuggerstadt noch einiges zu holen ist. Dass über dieses Thema in Augsburg erst jetzt in einer größeren Öffentlichkeit diskutiert wird, muss ein wenig verwundern, stellt dieses Konzept doch mittlerweile ein in vielen Städten Deutschlands anerkanntes Modell dar. In Großstädten wie Berlin, Bremen und Hamburg wird die Zwischennutzung von leer stehenden Gebäuden längst nicht mehr kontrovers diskutiert, sondern ist zu einem Instrument moderner Stadtplanung geworden (beispielhaft dafür sind das Hamburger Gängeviertel oder das Katerholzig in Berlin). In Bremen existiert mit der „ZwischenZeitZentrale“ eine von der Stadt und der Bundesregierung geförderte Koordinierungsstelle, deren Aufgabe es ist, Leerstände in Bremen zu dokumentieren, Projekten Starthilfe zu bieten und mit regelmäßigen Workshops das Thema „Temporär genutzte Räume“ in die Öffentlichkeit zu tragen. In einer vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung geförderten Studie zum Thema „Experimenteller Wohnungs- und Städtebau“ aus dem Jahr 2008 heißt es: „Zwischennutzungen von Gebäuden, Freiräumen und städtebaulichen Lücken spielten in der Vergangenheit für die Stadtplanung nur eine untergeordnete Rolle und wurden zudem aus Angst vor der dauerhaften Verfestigung von der Planung zumeist zu verhindern versucht. Mit den demografischen und wirtschaftsstrukturellen Veränderungen erlangen die temporären Nutzungen heute ein besonderes Interesse und eine neue, konzeptionell-strategische Bedeutung für die nachhaltige Stadtentwicklung.“ [2] Auch das deutsche Baurecht hat auf diese neuen Strategien einer „nachhaltigen Stadtentwicklung“ reagiert. Dies zeigt sich etwa in der Novellierung des Baugesetzbuches 2004, das seither um das „Baurecht auf Zeit“ (§ 9, Abs. 2) ergänzt wurde, nach dem zumindest theoretisch die Nutzung von Gebäuden für einen bestimmten Zeitraum oder bis zum Eintritt bestimmter Umstände vereinbart werden kann. Der bürokratische Aufwand für ein formelles Bebauungsplanverfahren als auch die Festschreibung der Folgenutzung haben die Anwendung dieser Gesetzesgrundlage jedoch bisher kaum erfolgen lassen.

Die angeführten Beispiele zeigen, dass die Idee, gewisse Räume in den Städten flexibel und nachhaltig für eine Steuerung urbaner Prozesse einzusetzen, längst zum Alltag moderner Stadtplanung geworden ist und die Stadt Augsburg auf diesem Themenfeld lediglich einen gehörigen Nachholbedarf aufzuweisen hat. Zu vermuten ist dabei, dass die strukturellen Wandlungsprozesse moderner Städte, auf die im Folgenden genauer eingegangen werden soll, im bayerischen Städtchen Augsburg mit einer gewissen Verzögerung eingetroffen sind, und das Thema damit erst in den vergangenen Jahren in Erscheinung trat. Zu den positiven Effekten der Zwischennutzung gehören nach der Studie „Experimenteller Wohnungs- und Städtebau“ die Imageverbesserung benachteiligter Stadtteile, die unterstützende Wirkung für die kreativen Szenen einer Stadt und nicht zuletzt der Erhalt von Bausubstanz, welche ohne eine vorübergehende Nutzung dem Verfall preisgegeben würde. In die jüngsten Diskussionen um das Thema Zwischennutzungen mischen sich allerdings auch kritische Stimmen, die etwa bemängeln, dass die positiven Effekte dieser Projekte weit weniger eindeutige Ergebnisse zeigten, als immer behauptet würde, und die Projekte noch immer überwiegend einer kleinen Klasse kreativer Erwerbsträger Vorteile böten und für Gruppen wie MigrantInnen oder sozial schwächere Bürger tendenziell nur wenig anschlussfähig wären.

Im Folgenden soll versucht werden, das Aufkommen der Idee der Zwischennutzung und der Kreativräume seit den 90er Jahren, in Bezug auf die Wandlungsprozesse unserer Gesellschaft näher zu fassen. Ziel ist es dabei, einen kritischen Blick auf die Funktion dieser Projekte für eine lebendige Stadtgesellschaft zu werfen. Im Wesentlichen versuche ich dabei eine Geschichte zu erzählen, welche die Entstehung und Wandlung von Freiräumen in unseren Städten sowie die Begriffe der Kreativität und der Selbstverwaltung im Lichte der sich verändernden ökonomischen und politischen Gegebenheiten seit Ende der 60er Jahre beschreibt.

 

Über den Strukturwandel der Städte

Die Veränderungen der Städte sind dabei so vielschichtig und ambivalent, dass eine wirkliche Tendenz kaum auszumachen ist. Festzuhalten ist jedoch, dass seit dem Jahr 2007 erstmals in der Geschichte mehr als 50% der Menschheit in urbanen Räumen leben und die klassische Stadt sich zunehmend in einer Struktur auflöst, die geprägt ist von weitläufigen urbanen Räumen und vernetzten Metropolregionen. In Deutschland ist diese weltweit spürbare Tendenz – wenn überhaupt – lediglich im Ruhrgebiet zu beobachten. Der Strukturwandel in Deutschland ist eher durch ein Schrumpfen der Städte im Osten des Landes, den Verfall der einstigen Schwerindustrie im Westen und eine steigende Wohnungsknappheit in den Ballungszentren gekennzeichnet [3]. Gleichzeitig findet seit einigen Jahren eine Diskussion in Deutschland statt, die unter dem Schlagwort der Gentrifizierung die Aufwertung von Wohnvierteln durch die Ansiedlung einer kreativen Szene und den damit einhergehenden Anstieg der Mieten und die Verdrängung der ursprünglichen StadtteilbewohnerInnen behauptet.  Für Augsburg spielen all diese Entwicklungen bisher eine eher untergeordnete Rolle. Der Verfall der hiesigen Textilindustrie ist längst Vergangenheit und Augsburg leidet auch nicht unter Abwanderungstendenzen der Bevölkerung wie im Osten Deutschlands. Die angedeuteten Entwicklungen sind andererseits auch nicht völlig irrelevant. So macht in den vergangenen Jahren etwa der Begriff der „Metropolregion München“ zunehmend die Runde, die Umwandlung des Textilviertels ist noch immer nicht gänzlich abgeschlossen und auch in Augsburg sind ein merklicher Anstieg der Mieten und die Aufwertung von Stadtteilen in der Innenstadt zu bemerken, die allerdings kaum dem üblichen Muster der Gentrifizierung folgen dürften, sondern eher klassischen städteplanerischen Entscheidungen entspringen. Die angedeuteten Ambivalenzen der Veränderungen urbaner Räume in Deutschland, die sich je nach Region im Schrumpfen, einer Konzentration oder der Vernetzung urbaner Räume äußern, verweisen darauf, dass heutige Methoden der Stadtplanung auf diese unterschiedlichen Gegebenheiten flexibel reagieren müssen, um damit der ganzen Bandbreite an Herausforderungen gerecht zu werden.

 

Zur politischen Ökonomie der Stadt

Die höchst unterschiedlichen Veränderungen deutscher Städte sind vermutlich besser zu fassen, wenn sie in Bezug auf die Verschiebung ökonomischer und politischer Strukturen der letzten Jahrzehnte diskutiert werden. Für Westeuropa bedeutet dies, dass die Wandlung der ökonomischen Verhältnisse unserer Gesellschaft vom Fordismus zum Neoliberalismus betrachtet werden muss. Die ökonomische Ordnung Europas nach Ende des Zweiten Weltkrieges war zunächst geprägt vom Wiederaufbau und einem Wirtschaftssystem, das sich bis in die 70er Jahre am klassischen Fordismus orientierte und damit wesentlich ein funktionales Ineinandergreifen von Massenproduktion, Vollbeschäftigung und Massenkonsum ermöglichte. Auf dieser Basis konnte ein keynesianisch [4] ausgerichteter Wohlfahrtsstaat soziale, und als Ausdruck davon städtische Ausgleichs- und Steuerungsprozesse anleiten, die sich etwa durch den sozialen Wohnungsbau ausdrückten. Diese Art der politischen Ökonomie wurde im Laufe der 80er Jahre durch den sogenannten Neoliberalismus abgelöst. „In aller Kürze kann Neoliberalismus als ein Prozess beschrieben werden, der marktorientierte Lösungen bevorzugt, die Kommodifizierung möglichst aller Lebensbereiche anstrebt und oftmals spekulative Finanzinstrumente zur Öffnung neuer Bereiche zur Profitgenerierung mobilisiert.“ [5] Diese ökonomische Veränderung hat für die Städte einen Wandel vom sozialstaatlichen Modell hin zur unternehmerischen Stadt zur Folge und damit eine Verschiebung der städtischen Kernaufgaben weg von sozialstaatlicher Verwaltung hin zum betriebswirtschaftlichen Management. Konkrete Steuerungsmechanismen einer „unternehmerischen Stadtpolitik ist der Versuch, die Stadt im Konkurrenzkampf um Investitionen, Arbeitskräfte, Kulturschaffende und Kreative, nationale Fördermittel sowie finanzielle, administrative und informationelle Kontroll- bzw. Befehlsfunktionen möglichst gut zu positionieren, um darüber die private Kapitalakkumulation mittels harter und weicher Standortfaktoren zu stimulieren.“ [6] In diesem politischen Wandlungsprozess steht die Stadt als Ort der sozialen Interaktion und der politischen Macht im Mittelpunkt gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und ist somit von der neoliberalen Implementierung nicht nur einfach betroffen, sondern auch zentraler Ort der Umsetzung und Modifikation dieses Konzeptes und ProjektesKonkret drückt sich diese Tatsache im Bereich des sozialen Wohnungsbaus aus. In den Zeiten des keynesianischen Wohlfahrtsstaats im Fordismus wurde billiger Wohnraum massiv gefördert, um auch den sozial schwächeren Gruppen der Gesellschaft die Möglichkeiten zu bieten am Konsum teilzuhaben, und dadurch Wirtschaftswachstum zu generieren. In den letzten Jahrzehnten sind diese Förderungen massiv zurückgefahren geworden, da sie nach der Idee des Neoliberalismus als ein unerwünschter Eingriff des Staates in den freien Wettbewerb verstanden werden. Gerade in Deutschland, wo etwa 75% der Bevölkerung in urbanen Räumen leben, ist die Stadt ein zentraler Schauplatz des Wandels ökonomischer Verhältnisse. Das Aufkommen der „Kreativräume auf Zeit“ seit den 90er Jahren passt dahingehend zum neoliberalen Projekt, da auch diese Orte für die Tendenz stehen, die Steuerung urbaner Prozesse zu flexibilisieren und sie von der Ebene eines direkten städtischen Eingriffs zu befreien. Mit derartigen Projekten sind neben einer Flexibilisierung städtischer Steuerungsmechanismen auch die Förderung der sogenannten Kreativwirtschaft und die Hoffnung auf die Ansiedlung einer Kreativen Klasse in der Stadt verbunden. Gerade letztere Begriffe zielen auf ein neues Themenfeld städtischer Wirtschaftspolitik ab, welche nun genauer betrachtet werden soll.

 

“THE RIGHT TO THE CREATIVE CITY … six words, of which five are controversial.“ [7]

Der Begriff der Kreativwirtschaft verweist auf die Anfang der 2000er Jahre entstandene Wirtschaftstheorie des amerikanischen Sozioökonomen Richard Florida, der mit seinem Buch „The Rise of the Creative Class. And How It’s Transforming Work, Leisure and Everyday Life“ ein neues Aufgabenfeld heutiger Stadtpolitik beschreibt. Wesentlich versucht Florida in seinen Arbeiten zu zeigen, dass ein Klima gesellschaftlicher Offenheit einen zentralen Wettbewerbsvorteil für Städte bilden kann. Es bindet kreative Erwerbspersonen an den Standort und zieht hochmobile „high potentials“ an. Ein solches Klima der Offenheit entsteht laut Florida vor allem durch eine lebendige Künstlerszene, eine große Anzahl homosexueller Menschen in einer Stadt (kein Scherz!) und eine lebendige Klub- und Popkultur. Diese Szenen bilden allerdings nur die Rahmenbedingungen für die Ansiedlung einer Kreativen Klasse und sind keinesfalls mit dieser gleichzusetzten. Die Kreative Klasse umfasst dabei nicht nur kultur- und kreativwirtschaftlich Erwerbstätige, sondern alle kreativ tätigen Menschen, also z.B. auch Börsenmakler, Techniker und Ärzte. Die Grundaussage von Floridas Theorie besagt – und das wird permanent missverstanden –, dass die kreativen Köpfe einer Gesellschaft und die von ihnen ausgehenden Innovationen entscheidend für das ökonomische Wachstum heutiger Regionen seien. Mit der Kreativen Klasse ist der Teil der Gesellschaft bezeichnet, der dank seines Intellekts/Talents/Wissens auch heute noch dazu in der Lage ist, die hinkende Kapitalakkumulation am Laufen zu halten und das Schrumpfen einer klassischen fordistischen Schwerindustrie durch die Entwicklung innovativer Produkte und Dienstleistungen abzufangen. Das Aufkommen des Themenfeldes der Kreativwirtschaft verweist damit ebenso auf die neoliberal unternehmerische Stadt, in der ein Kampf um diese Köpfe der Gesellschaft entbrannt ist. Und um es noch einmal zu verdeutlichen: Die Förderung von Popkultur ist in dieser Logik niemals Selbstzweck, sondern Ausgangspunkt für die Ansiedlung einer Kreativen Klasse in einer Region, um letztlich deren Wirtschaftskraft zu steigern. Genau an dieser Stelle bieten Kreativräume auf Zeit die Möglichkeit, die Attraktivität einer Stadt für die Ansiedelung dieser Kasse zu steigern und gleichzeitig Experimentierräume für Nachwuchskünstler zu schaffen. Dass die L.O.F.T.´s (Locations occupied for time) daher eher für eine gehobenere, kunstaffine und hippe Jugend (und Junggebliebene) ausgerichtet sind und nur selten für sozial schwächere Menschen einen Zugang bieten, ist damit kein Zufall, sondern entspricht der inneren Logik dieser neuen Wirtschaftstheorie, die nicht die Integration sozial schwächerer Schichten, sondern einen Wettbewerb um die kreativen Köpfe einer Gesellschaft anstrebt.

Aus ökonomischer und stadtplanerischer Sicht, ist die Förderung kreativer Projekten auf der Basis von Zwischennutzungen wie sie bisher diskutiert wurde, durchaus sinnvoll, entspricht dieses Konzept doch tendenziell den ökonomischen Bedingungen der neoliberalen Stadt. Das Fazit der Studie Experimenteller Wohnungs- und Städtebau“ lautet daher auch: „Die Untersuchung der verschiedenen Projekte hat gezeigt, dass temporäre Nutzungen von Freiflächen und Gebäuden weit verbreitet sind, positive Wirkungen auf die Stadtquartiere entwickeln können, eine finanzielle Entlastung für Eigentümer bieten und besondere Gestaltungsperspektiven für die Nutzer eröffnen. Zwischennutzungen können einen wichtigen Beitrag für eine dynamische Stadtentwicklung leisten, die Potenziale in den Städten sind aber bei Weitem noch nicht ausgeschöpft“. Auf eine weitere Tendenz im Zusammenhang mit der Entstehung von L.O.F.T.´s verweist Margit Mayerin ihrer Arbeit „Contesting the Neoliberalization of Urban Governance“: Sie merkt dort kritisch an, dass die neoliberale unternehmerische Stadt vormals progressive Konzepte wie Selbstverwaltung oder Autonomie oftmals in einer regressiven, individualisierenden und wirtschaftlichen Weise neu definiert und sich zu eigen macht. Dies bedeutet, dass vormals widerständige und kritische Begriffe wie der des Freiraums oder der Kreativität, die einst auf die Idee eines besseren Lebens abzielten, heute vollständig in die ökonomische Struktur der Stadt integriert wurden. Um diesen Aspekt näher zu beleuchten, soll ein kleiner Ausflug in die Geschichte dieser beiden Begriffe unternommen werden.

 

„Die Phantasie an die Macht!“

„L’imagination au pouvoir!“ – „Die Phantasie an die Macht!“ war eine der vielen Parolen, die im Mai 1968 an den Wänden der besetzten Sorbonne zu lesen waren, und im Rückblick auf die Ereignisse dieser Zeit steht der Ausspruch beinahe exemplarisch für das letzte Aufkeimen einer sozialistischen Revolution in der westlichen Welt, wie es in jenen Tagen in Frankreich in Erscheinung trat [8]. Der Spruch verweist darauf, dass sich die Protagonisten der damaligen Revolte nicht mit einer Gesellschaft, in der das Leben nur aus entfremdeter Arbeit und einer kulturellen Sphäre bestand, die damals schon den Charakter von Waren angenommen hatte, abfinden wollten. Gegen diesen Zustand setzten die 68er den Entwurf einer Gesellschaft, in der die Fantasie es ermöglichen sollte, etwas völlig anderes, bisher Undenkbares zu schaffen. Dieser Zeitpunkt und die Parole „Die Phantasie an die Macht!“ können als Ausgangspunkt einer Entwicklung verstanden werden, die, wenn man den Begriff der Fantasie als die Fähigkeit der Menschen versteht, kreativ zu sein, letztlich dazu führt, dass die Forderungen der 68er in unserer heutigen Zeit in dem Konzept der Kreativräume auf Zeit zu sich selbst gekommen sind. Von den Ereignissen des Jahres 1968 verweist ein Linie linker Projekte und Strömungen vom antiautoritären Flügel der Studentenrevolte (Spontis, Anarchisten, Jugendbewegungen) über die autonomen Hausbesetzungen und die ArbeiterInnen-Jugend-Zentren (AJZ) der 70er und 80er Jahre bis zu den Orten einer linken Subkultur wie der Rotenfabrik (Zürich), der Roten Flora (Hamburg) oder dem Conny Island (Leipzig). Welche Gesellschaftliche Dimension diese Orte einst besaßen, zeigt das Beispiel der AJZ: „Nachdem wir unsere Räumlichkeiten einigermaßen renoviert und instandgesetzt hatten, organisierten alle Gruppen im Haus für den Herbst 1974 einen Sternmarsch und luden 170 selbstverwaltete Jugendzentren aus einem Umkreis von Frankfurt bis Kiel ein, um auf die katastrophalen Zustände im Freizeitbereich und auf die schäbige Taktik seitens der Behörden, die unsere Arbeit nur verschleppt finanziell unterstützten, hinzuweisen; […]“.[9] Neben der erstaunlich hohen Zahl selbstverwalteter Jugendzentren in den 70ern deutet das Zitat den politischen Charakter derartiger Projekte und die Absicht an, tatsächlich ein Stück gesellschaftlicher Realität dauerhaft zu verändern. Von kreativen Räumen, die für eine begrenzte Zeit zwischengenutzt werden, war damals jedenfalls ganz sicher nicht die Rede. Man wollte nicht nur „… ein Stück vom Kuchen, sondern die ganze Bäckerei“, wie es in einer gängigen Parole dieser Zeit zum Ausdruck kam. Übrig geblieben von diesen Häusern und Projekten, deren letztes Aufblühen im Berlin der Wendezeit zu beobachten war, ist heute nur noch wenig. Die Idee, dass Kreativität und Freiräume etwas ganz anderes intendieren, ist mit dem Aufkommen der neoliberalen Stadt in Vergessenheit geraten, und die einst widerspenstigen Momente urbaner Jugend- und Subkultur wurden weitestgehend in die ökonomische Struktur der Stadt integriert.

 

Von der Unmöglichkeit von Freiräumen in der posturbanen Gesellschaft 

Die beiden im Verlauf des Textes skizzierten Stränge machen deutlich, dass mit der ökonomischen Verschiebung vom Fordismus zum Neoliberalismus die Möglichkeiten für Freiräume in unseren heutigen Städten immer weniger gegeben sind. Das Konzept der Zwischennutzung bildet, wie im ersten Strang gezeigt wurde, ein heute größtenteils anerkanntes Modell neoliberaler Stadtplanung, und die Augsburger Stadtregierung wäre extrem ungeschickt, würde sie dieses Themenfeld in Zukunft nicht weiter forcieren.  Der zweite Strang bringt darüber hinaus zum Ausdruck, dass mit der Idee der Zwischennutzung die letzten selbst organisierten Freiräume, die sich die StadtbewohnerInnen einst aneigneten (68, Häuserkämpfe, AJZ), immer mehr verunmöglicht werden. Die wenigen noch wahrnehmbaren Widersprüche in der Verfasstheit unserer Gesellschaft, die sich in der Struktur der Stadt etwa durch Leerstände, Umstrukturierungen und Brachen ausdrückten und die einst in kritischer Absicht angeeignet wurden, werden heute, kaum sind sie entstanden, auch schon wieder in die ökonomische Struktur der Stadt integriert. „Die Städte sind keine Städte mehr. Sie expandieren und implodieren, wachsen und schrumpfen zugleich. Raum und Zeit sind vollständig der ökonomischen Logik unterworfen, das Leben von einer technologischen Rationalität bestimmt, die sich bis in die beiläufigsten Alltagshandlungen hinein durchgesetzt hat. Der Terminus posturban kennzeichnet genau das: dass die Urbanität im Sinne des realen Humanismus keine Perspektive mehr darstellt, keine Option für eine befreite Gesellschaft ist.“ [10]Die Zwischennutzung von Räumen als flexible, kreative Zentren der Stadtentwicklung sind ein Teil dieser Tendenz, passen sie doch all zu gut zu dem heute überall geforderten kreativen und flexiblen Wirtschaftssubjekt. Die Menschen, die im Umfeld solcher Projekte sozialisiert werden, gehörten später meist zu den begehrtesten ArbeitnehmerInnen. Selbst diese kleinen Projekte, die zunächst lediglich als nette Kunstprojekte, spannende Spielwiesen und kreative Experimente auftreten und die das Leben in unserer heutigen Gesellschaft ein Stück erträglicher machen, sind damit nicht einfach nur als harmlos zu betrachten, ist die Struktur der heutigen Formen der Ökonomie doch tief in sie eingedrungen. Wirkliche Freiräume, in denen noch Raum und Zeit für die Entwicklung einer ernsthaften Kritik der Gesellschaft gegeben waren und wie sie einst in einer linken Tradition erkämpft wurden, können in der posturbanen Gesellschaft kaum noch entstehen.

Die kurze Geschichte linker Freiräume wurde nur deshalb angerissen, um zu zeigen, wie die Widersprüche in der Struktur unserer Gesellschaft, die auch heute noch existieren, einst ihren Ausdruck in Besetzungen und politischen Kämpfen finden konnten, als die Gesellschaft noch nicht in jedem Aspekt warenförmig organisiert war. Erst der Neoliberalismus hat dazu geführt, dass unter anderem auch die Stadt selbst zur Ware wurde und es zu einem tendenziell reibungslosen Ablauf aller Prozesse innerhalb der Stadt kommen konnte. Dies bedeutet auch, dass die alten autonomen Zentren heute keinen adäquaten Gegenentwurf zu den Kreativräumen auf Zeit mehr darstellen, dass an ihrer Geschichte aber deutlich wird, wie sich einst kritische Begriffe wie SelbstverwaltungKreativität und Freiräume in ihrer Bedeutung gewandelt haben, um schließlich vom Kapitalismus vereinnahmt zu werden. Die Fantasie ist heute in Gestalt der Kreativen Kasse tatsächlich an die Macht gelangt, und auch deshalb scheint ein Zurück zu den alten Konzepten der „Autonomen Zentren“ ebenso unangemessen wie eine unreflektierte Begeisterung für das neoliberale Konzept der Kreativräume auf Zeit.


[1] Im JeanStein fanden in jenen Monaten vor allem Kneipenabende aber auch Konzerte, Ausstellungen und Diskussionsabende statt.

[2] Forschungsprogramm „Experimenteller Wohnungs- und Städtebau“ (ExWoSt) des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) und des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung (BBR). Werkstatt: Praxis Heft 57 Bonn 2008

[3] Diplomarbeit. Raumpioniere Ruhr – Stadtentwicklung durch kulturwirtschaftliche Zwischennutzung, Nenad Rosic.

[4] Bezeichnet die Wirtschaftstheorie des Ökonomen John Maynard Keyns die davon ausgeht, dass der Konsum der Bevölkerung ein entscheidender Faktor für das Wachstum einer Volkswirtschaft darstellt und dieser durch Staatseingriffe beeinflusst werden kann.

[5] Brenner, Neil; Peck,Jarnie; Theodore, Nik (2010): After Neoliberalization?, in: Globalizations, 7 (3), S. 327-345

[6] Mullis, Daniel (2011): Die Stadt im Neoliberalismus. In:  Linke Metropolenpolitik. Erfahrungen und Perspektiven am Beispiel Berlin, Westfälisches Dampfboot, 14–33.

[7] Vortrag: Peter Marcuse, The Right To The Creative City, http://vimeo.com/29290392

[8] Dabei ist zu berücksichtigen, dass anders als in Deutschland, die Aufstände von 1968 in Frankreich von einer breiten Schicht der Arbeiterklasse getragen wurden. Über mehrere Wochen legte ein wilder Generalstreik, an dem sich bis zu zwei Millionen Menschen beteiligten beinahe das gesamte Land lahm. De Gaulle sah sich in diese Lage sogar kurzzeitig dazu veranlasst am 29.Mai unter Geheimhaltung nach Baden Baden zu fliegen, um sich die Unterstützung des in Deutschland stationierten, französischen Militärs zu sichern.

[9] AutorInnen-Kollektiv, ArbeiterInnen-Jugend-Zentrum/Bielefeld – 30 Jahre Autonom und Selbstverwaltet, AJZ-Verlag. Das Buch wurde in der Druckerei des AJZ-Bielefeld hergestellt. Auch dies zeigt noch einmal, was Selbstverwaltung einst meinte.

[10] Roger Behrens, „Kritische Theorie der Stadt“ auf http://www.rogerbehrens.net (Mai 2013).